Antifaschistische Aktion Lüneburg/Uelzen

11. Juli 2018: Demonstration in Lüneburg am Tag der Verkündung des Urteils im NSU-Prozess

In Gedenken an:  Enver Şimşek,  Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü,  Habil Kılıç,  Mehmet Turgut,  İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides,  Mehmet Kubaşık,  Halit Yozgat,  Michèle Kiesewetter

Am 6. Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gegen Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Sch. Am 11. Juli 2018 wird der Prozess nach über 430 Verhandlungstagen zu Ende gehen. Unabhängig davon, welchen Ausgang der Prozess nimmt: Für uns bleiben mehr Fragen als Antworten. Wir werden daher zum Prozessende zusammen auf die Straße gehen. Denn wir werden den NSU nicht zu den Akten legen.


Tag X – Mittwoch, 11. Juli 2018 – 18 Uhr – Marktplatz – Lüneburg


5 Jahre NSU-Prozess

Kein Schlussstrich!

In Gedenken an: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter

NSU-Komplex aufklären und auflösen!

Verfassungsschutz abschaffen!

Den rassistischen Terror bekämpfen!

Institutionalisiertem Rassismus entgegentreten!

Am 6. Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gegen Beate Zschäpe, André Eminger, Holger Gerlach, Ralf Wohlleben und Carsten Sch. Voraussichtlich im Frühjahr 2018 wird der Prozess nach etwa 400 Verhandlungstagen zu Ende gehen. Unabhängig davon, welchen Ausgang der Prozess nimmt: Für uns bleiben mehr Fragen als Antworten. Wir werden daher zum Prozessende zusammen auf die Straße gehen. Denn wir werden den NSU nicht zu den Akten legen.

Wir wollen wissen, wer für die Mordserie, die Anschläge und den Terror verantwortlich ist. Die Beschränkung der Bundesanwaltschaft auf das Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe und ihr nächstes Umfeld ignoriert den Netzwerkcharakter des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Der NSU war keine isolierte Zelle aus drei Personen, der NSU war auch mehr als die fünf Angeklagten vor dem Oberlandesgericht. Nicht zuletzt die Arbeit der Nebenklage hat diese Grundannahme längst widerlegt. Ohne militante Nazi-Strukturen wie Blood & Honour (B&H) , lokale Kameradschaften oder etwa den Thüringer Heimatschutz um V-Mann Tino Brandt und Ralf Wohlleben, wäre der NSU wohl schwer möglich gewesen.

Rechter Terror hat Tradition. Rechter Terror ist keine Erfindung des NSU. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es immer wieder rechte Terrorgruppen gegeben, die eine blutige Spur des Rassismus hinterlassen haben. Auch in der näheren Umgebung von Lüneburg gab es diese. In der Lüneburger Heide gab es Stützpunkte der Stay-Behind-Organisation, einer Geheimarmee die in den 1950er Jahren von der NATO aufgestellt wurde, um nach einem möglichen Angriff der Sowjetunion hinter den „feindlichen Linien“ zu kämpfen. Dazu wurden auch Neonazis trainiert und bewaffnet. Bei einem mutmaßlichen Angehörigen dieser Organisation, Heinz Lembke aus Öchtringen (Landkreis Uelzen), wurde 1981 eins der größten Waffen- und Sprengstoffdepots gefunden. Lembke war NPD-Mitglied und unterhielt Kontakte zu diversen Rechtsterroristen, wie Manfred Roeder oder Peter Naumann. Er stand in Verdacht den Sprengstoff für den Oktoberfestanschlag 1980 geliefert zu haben. Kontakt hatte Lembke auch zu Hellmut Meyer aus Hohnstorf (Landkreis Uelzen). Dieser vermittelte ihm einen Kontakt zu Manfred Roeder und den Mitgliedern der „Deutschen Aktionsgruppen“ Raymund Hörnle und Sibylle Vorderbrügge, welche am 22. August 1980 einen Brandanschlag auf ein Übergangsheim für Flüchtlinge in Hamburg verübten, bei dem die beiden Vietnamesen Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân getötet wurden. In Handorf, bei Lüneburg lebt seit Jahren der Nazi-Funktionär Mandfred Börm, der zur Zeit für die NPD im Samtgemeinderat von Bardowick sitzt. Börm hat eine lange Geschichte in der extrem rechten Bewegung. Seine braune Karriere begann er Anfang der 1970er Jahre. Er war zunächst in Schleswig-Holstein Funktionär der inzwischen verbotenen Wiking Jugend und an Aktionen einer„Wehrwolf“-Untergrundgruppe beteiligt. 1979 wurden Börm und andere Neonazis, darunter Michael Kühnen und Uwe Rohwer, als Mitglieder einer „kriminellen Vereinigung“ unter anderem wegen eines Überfalls auf niederländische NATO-Soldaten in Bergen-Hohne verurteilt. Für diesen Waffendiebstahl erhielt Börm eine siebenjährige Haftstrafe.

Auch in Niedersachsen war der NSU vernetzt. Der wegen Unterstützung des NSU angeklagte Holger Gerlach gestand vor Gericht, Pässe und einen Führerschein für den NSU organisiert zu haben und 10.000 Euro an seinem Wohnort im niedersächsischen Lauenau deponiert zu haben. Gerlach nahm am 4. Dezember 1999 auch an einem nicht angemeldeten Naziaufmarsch in Lüneburg teil. Aber auch schon Jahre vorher hatte der NSU beste Kontakte nach Niedersachsen. So reiste Beate Zschäpe 1997 zu einem Rieger-Treffen ins damalige Schulungszentrum Hetendorf Nr. 13 in der Lüneburger Heide. Zwei Jahre vorher war bereits der NSU-Terrorist Uwe Mundlos bei einem Aufmarsch in Schneverdingen dabei. Außerdem konnte sich der NSU in Niedersachsen möglicherweise wie in Thüringen und Sachsen auf Helferstrukturen des 2000 verbotenen, militanten Netzwerks „Blood&Honour“ stützen. Aus internen Ermittlungsakten geht hervor, dass das Trio bereits vor seinem Abtauchen 1998 Kontakte zu B&H hatte. Bei einer Hochzeitsfeier des Rechtsrock-Produzenten Thorsten Heise in Niedersachsen 1999 war neben B&H-Anführern und Holger Gerlach auch der „Thüringer Heimatschutz“, dem das Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe angehörten, vertreten. Auf ihrer viertägigen Flucht machte Beate Zschäpe im November 2011 auch für einige Stunden Station in Uelzen. Das sind nicht die einzigen Spuren nach Niedersachsen. An der Hochzeitsfeier 1999 in Northeim nahm eine weitere Szenegröße teil: Daniel Giese alias „Gigi“. Der Rechtsrock-Musiker aus Meppen gehört zur rassistischen Kombo „Gigi & die braunen Stadtmusikanten“. 2010 veröffentlichte Giese ausgerechnet bei einem Chemnitzer Szene-Label, zu dessen Gründer auch NSU-Mitglied Mundlos Kontakt hatte, den „Dönerkiller“-Song. Die zeigt, dass der NSU gut vernetzt war und auch einige Verbindungen nach Niedersachsen bestanden.

Es geht uns um die Entschädigung der Betroffenen, Überlebenden und Hinterbliebenen sowie die Würdigung ihrer Perspektive in der Debatte. Es war gerade auch das Umfeld der Mordopfer, das früh darauf bestand, eine rassistische Motivation für die Taten in die Ermittlungen einzubeziehen. Etwa auf den Schweigemärschen in Kassel und Dortmund, die unter dem Motto „Kein 10. Opfer!“ die Aufklärung der Mordserie forderten. Stattdessen richteten sich die Untersuchungen vornehmlich gegen das Umfeld der Opfer und Betroffenen. Immer wieder gerieten auch Hinterbliebene der Ermordeten ins Visier der Behörden. Aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft konnten sie keine große Anteilnahme erwarten: als Menschen mit Migrationsgeschichte durften sie nicht einfach Opfer sein – etwas potentiell Kriminelles, irgendwie Gefährliches musste doch an ihnen haften. Dies zog sich wie ein roter Faden durch die Ermittlungen, sowohl bei den „Česká-Morden“ als auch bei den Anschlägen des NSU, etwa auf die Kölner Keupstraße, und das obwohl zum damaligen Zeitpunkt keinerlei Verbindung zwischen den Taten zu bestehen schien. Doch es gab diese Verbindung: die Ermordeten, die Verletzten, die Attackierten waren durch ihre Migrationsbiografie ins Visier des rassistischen Terrors geraten. Und es waren rassistische Ressentiments bei Polizei und Sicherheitsbehörden, welche die Ermittlungen in die Irre führten, es waren rassistische Klischees, die Presseberichterstattung und Öffentlichkeit dazu brachten, die fantastischen Erzählungen von mafiösen und kriminellen Verstrickungen der Betroffenen zu verbreiten.

Wir müssen über Rassismus reden. Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem. Und das gilt wortwörtlich: Diese Gesellschaft hat ein Rassismusproblem, und zwar ein gewaltiges. Rassismus wird dabei fälschlicherweise oft nur bei klassischen Neonazis verortet. Ebenso findet sich Rassismus auch jenseits der sogenannten neuen Rechten, die sich hinter den Bannern von AfD, Pegida und Konsorten versammeln. Rassismus findet sich in Ämter- und Behördenpraxis, Polizeiarbeit, der Art wie gesellschaftliche Ressourcen und Teilhabe verteilt werden. Rassismus findet sich in marktschreierischen Wahlkampfauftritten wie auch in subtil und vornehm formulierten Leitartikeln. Rassismus zieht sich durch die ganze Gesellschaft: Weil die Gesellschaft, wie sie derzeit eingerichtet ist, Hierarchie, Ausbeutung und Ausgrenzung zwingend hervorbringt und legitimieren muss. Weil eine von Herrschaft durchzogene Gesellschaft, in der Ressourcen und Positionen ungleich verteilt und umkämpft sind, nicht allein durch den Bezug auf eine angebliche gemeinsame „Kultur“ zusammengehalten werden kann, sondern die Abwertung anderer „Kulturen“ benötigt. Weil die „eigene“ Identität stabilisiert wird, indem negative Elemente auf die Projektion der „Anderen“ abgewälzt werden.

Wir fordern die Abschaffung des Verfassungsschutzes. Der Verfassungsschutz wusste nicht zu wenig, sondern zu viel. Das wurde bereits in den ersten Wochen nach der Selbstenttarnung des NSU deutlich. Doch während Image und Legitimität des Inlandsgeheimdienstes zumindest zwischenzeitlich Schaden nahmen und und viele Stimmen bis weit ins bürgerliche Lager seine Abschaffung forderten, ging er letztlich doch unbeschadet aus der Affäre und steht mittlerweile wahrscheinlich sogar besser da als zuvor. Er konnte nicht nur seine gesellschaftliche Reputation wiederherstellen, sondern sogar seine Befugnisse ausweiten. Für uns ist die Sache jedoch nicht erledigt: Für uns bleiben Fragen: Fragen bezüglich der wiederholten, planmäßigen Vernichtung relevanter Akten; Fragen zur Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme, der sich im Internetcafé Halit Yozgats aufhielt, als dieser ermordet wurde, und angeblich nichts bemerkt haben will; Fragen zu V-Mann Piatto, der schon 1998 wichtige Hinweise über die untergetauchten Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe weitergab; Fragen zu Ralf Marschner, der als V-Mann Primus im Kontakt mit den Untergetauchten gestanden haben soll. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Im Kampf gegen rechte Strukturen schließen wir uns nicht den wiederkehrenden Rufen an, der Verfassungsschutz solle künftig bitte auch diese oder jene rechte Gruppe beobachten. Nazis sind auch ohne Gelder, Aufbauarbeit und logistische Unterstützung des Geheimdienstes gefährlich genug. Mindestens diese Lehre sollte aus dem NSU gezogen werden.

Wir wehren uns gegen rassistische Stimmungsmache und Gewalt. Der NSU war nicht die erste Neonazi-Terrororganisation und es sieht auch nicht so aus, als sei er die letzte gewesen. In den letzten Monaten laufen und liefen mehrere Prozesse gegen Zusammenschlüsse wie die „Oldschool Society“ oder die „Gruppe Freital“. Daneben häufen sich die Meldungen von immer neuen Waffenfunden bei rechten Strukturen, immer neue gewaltbereite rechte Organisierungsansätze sprießen regelrecht aus dem Boden. Die Zahl der Brandanschläge und rassistischen Übergriffe ist in den letzten Jahren gravierend angestiegen. Und während sich der nette Herr von nebenan im Internet mit „Migrantenschreck“ genannten Schusswaffen eindeckt, legen die Entscheidungsträger_innen mit dem Abbau des Asylrechts und neuen Integrationsgesetzen vor, setzen Ausländerbehörde und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Abschreckung, werden Sammelabschiebungen auf den Weg geschickt und Abschiebelager hochgezogen.

Nach fünf Jahren lässt sich ein frustrierendes Fazit ziehen. Die Aufklärung im Rahmen des Prozesses wurde konsequent unterbunden, auch durch die eng geführte Anklageschrift der Bundesanwaltschaft und die Weigerung, der Nebenklage komplette Akteneinsicht zu gewähren. Noch immer wird rechte Gewalt verharmlost, noch immer darf sich der Verfassungsschutz als Beschützer inszenieren, noch immer hat diese Gesellschaft Rassismus nicht überwunden, noch immer ist es nötig auf den institutionellen Rassismus in Deutschland hinzuweisen, wie das erst jüngst die UN und Nichtregierungsorganisationen getan haben und wie es Selbstorganisierungen von Betroffenen nicht erst seit gestern tun. Es wurden von Seiten der Mehrheitsgesellschaft keine erkennbaren Lehren aus dem NSU gezogen. Höchste Zeit also, dass sich das ändert. Initiativen wie „Keupstraße ist überall“ oder das „NSU-Tribunal“ und die zahlreichen Vereinigungen die lokal im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des NSU zusammen kamen, haben vorgemacht wie es geht.

Am Tag der Urteilsverkündung wollen wir mit euch auf die Straße gehen. Denn für uns bedeutet das Ende des Prozesses nicht das Ende der Auseinandersetzung mit dem NSU und den Verhältnissen, die ihn möglich machte:

Kein Schlussstrich! – NSU-Komplex aufklären und auflösen!

Verfassungsschutz auflösen – V-Leute abschaffen!

Dem aktuellen rassistischen Terror gegen Flüchtlinge und Migrant_Innen entgegentreten!

Rassismus bekämpfen!

 

Auf die Straße am Tag der Verkündung des Urteils im NSU-Prozess – auch in Lüneburg:

Mittwoch, 11. Juli 2018  I  18 Uhr  I  Marktplatz

Unterstützer_innen (Stand 03.07.18):

 

Aufruf (PDF)

 

Weitere Infos:

nsuprozess.net

nsu-nebenklage.de

www.nsu-watch.info